„Harmlosigkeitsgrenze“ bei Verletzungen der HWS?
BGH, Urteil vom 28.01.2003, Az.: VI ZR 139/02
Fundstelle: NJW 2003, 1116 ff.

I.

In dem zu entscheidenden Fall erlitt der Geschädigte bei einem Auffahrunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule. Der Unfallgegner fuhr mit niedriger Geschwindigkeit auf den verkehrsbedingt haltenden PKW des Geschädigten auf.

Der Durchgangsarzt diagnostizierte ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule, legte eine Cervicalstütze an und verordnete die Einnahme von Spasmolytika.

Der weiterbehandelnde Arzt legte eine Halskrause an, eine so genannte „Schanz‘sche Krawatte“. Bei einer Nachuntersuchung wurden tastbare Verspannungen im Bereich der Brustwirbelsäule festgestellt. In der Folgezeit litt der Geschädigte zunehmend unter einer Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule und unter häufig auftretendem Schwindel, Sehstörungen in Form von Schleiersehen und plötzlichem Auftreten von Übelkeit.

Die Haftpflichtversicherung hat vorgerichtlich einen Betrag von 4.300,00 DM als Schmerzensgeld bezahlt. Der Geschädigte hat darüber hinaus auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes geklagt, mindestens 30.000,00 DM. Das Landgericht hat einen Betrag von weiteren 3.700,00 DM zugesprochen, im Übrigen die Klage abgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht über den bereits vorgerichtlich gezahlten Betrag von 4.300,00 DM, entsprechend 2.198,56 €, einen weiteren Betrag von 15.338,76 € (30.000,00 DM) zugesprochen. Der Kläger habe glaubhaft angegeben, dass alle Beeinträchtigungen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall entstanden seien. Die Bewegungseinschränkungen seien gutachterlich festgestellt worden, die - nicht messbaren – Schmerzen wie Schwindel und Übelkeit seien gutachterlich nicht in Zweifel gezogen worden. Vorerkrankungen seien nicht festgestellt worden.

Gegen das Urteil ist beim Bundesgerichtshof Revision eingelegt worden. Die Revision ist insbesondere darauf gestützt worden, dass das Berufungsgericht verpflichtet gewesen wäre, hinsichtlich des Umfangs der Beschädigungen der beteiligten Fahrzeuge und der sich daraus ergebenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ein Sachverständigengutachten einzuholen und sodann mittels biomechanischen Gutachtens der Frage nachzugehen, ob der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion hervorzurufen. Bei Heckunfällen mit einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung im Niedriggeschwindigkeitsbereich, d.h. im Bereich zwischen 4 und 10 km/h, sei eine Verletzung der Halswirbelsäule generell auszuschließen.

Der Bundesgerichtshof hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen und das Urteil des Oberlandesgerichts bestätigt.

Die so genannte „Harmlosigkeitsgrenze“ oder auch „Belastungsgrenze“ sei als Begriff geprägt worden, um eine Grenze zu setzen, ab der eine Verletzung der Halswirbelsäule nicht mehr in Betracht komme. Es gehe hierbei um die Frage, wie stark die auf den Körper einwirkenden Kräfte mindestens sein müssen, damit eine Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule verursacht werden kann.

Diese von der Revision herangezogene Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung im Niedriggeschwindkeitsbereich eine Verletzung der Halswirbelsäule generell auszuschließen sei, stoße in Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik und werde insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen.

Gegen die schematische Annahme einer „Harmlosigkeitsgrenze“ spreche insbesondere, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung nicht die einzige bedeutsame physikalische Größe sei. Die Beantwortung der Frage, ob die Verletzung der Halswirbelsäule durch den Unfall verursacht worden sei, hänge auch von anderen Faktoren ab, insbesondere der Sitzposition des betreffenden Fahrzeuginsassen.

Sei – wie hier – durch ärztliches Attest eine Verletzung festgestellt, werde diese Verletzung auch nicht durch ein Kfz-technisches Gutachten erschüttert, selbst wenn das Gutachten wegen einer errechneten kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung im Niedriggeschwindigkeitsbereich eine Verursachung der Verletzung durch die Kollision ausschließe.

Maßgeblich abzustellen sei darauf, dass nach eingehender medizinischer Begutachtung feststehe, dass durch einen Unfall eine Körperverletzung erfolgt sei, ferner dass die im Urteil festgestellten Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen seien.

II.

Es ist zu begrüßen, dass durch das Urteil des Bundesgerichtshofs der individuellen Belastbarkeit des Menschen Rechnung getragen wird und eine pauschale Anwendung der so genannten „Harmlosigkeitsgrenze“ verneint wird. Höchstrichterlich ist klargestellt worden, dass medizinische Fragestellungen auch medizinisch beantwortet werden müssen ( vgl. Wedig, DAR 2003, 39). In der aktuellen gutachterlichen Praxis nach „Schleudertraumen“ waren bislang zwei Tendenzen festzustellen, die das Neutralitätsgebot eines medizinischen Sachverständigen gefährdeten, einerseits die tendenziellen Angebote zum medizinischen Beweis/Ausschluss eines Primärschadens und andererseits die scheinbar medizinische Argumentation mit einer physikalischen „Harmlosigkeitsgrenze“. Beiden Fehlentwicklungen ist durch dieses Urteil Einhalt geboten.